Mittagspause. Es nieselt etwas. Lohnt sich kaum, den Schirm aufzuspannen. Ich muss mich beeilen und gehe schnell durch die Fußgängerzone. Hoffentlich ist es im Drogeriemarkt nicht so voll. Plötzlich rutsche ich aus. Ich kann mich gerade noch fangen. Ich schaue zu Boden. Sehe die drei messingfarbenen Stolpersteine. Sie glänzen in der feuchten Luft. Wie oft bin ich schon an ihnen vorbeigelaufen. Meist versuche ich, nicht auf sie zu treten. Diesmal habe ich nicht aufgepasst. Ich fühle mich ertappt.
Alle Eile fällt von mir ab. Ich lese die Namen: Jacob Miner, deportiert Richtung Polen. Minna Miner, deportiert Richtung Polen. Regina Miner, deportiert Richtung Polen. Ich trete ein paar Schritte zurück und schaue hoch zum Haus. Es wird sicher nicht mehr das Haus von damals sein. Hagen wurde im Krieg ziemlich zerstört. Regina, die Tochter von Jacob und Minna war 12 Jahre alt, als sie alle weggebracht wurden. Meine Sicht scheint sich plötzlich in schwarz-weiß zu wandeln. Ich sehe junge Männer in braunen Uniformen, die das Haus stürmen. Ich sehe, wie sie die Treppen mit ihren schwarzen Stiefeln hoch rennen, gegen die Wohnungstür hämmern. Ich spüre fast die Angst und den Schock der drei Miners, die ängstlich in ihrer Wohnung stehen. Stelle mir vor, wie sie von den Männern ergriffen werden und aus ihrer Wohnung gezerrt werden. Konnten sie noch etwas mitnehmen? Regina vielleicht einen Teddy oder eine Puppe, die ihr etwas Trost geben könnte?
„Was sind das für Männer?“, frage ich mich. Führen sie blind Befehle aus? Sind einige vielleicht selbst verängstigt und fühlen sich schuldig? Oder tragen sie ihre Uniformen und die Abzeichen mit dem Hakenkreuz voller Stolz? Fühlen sich im Recht, als eine überlegene Rasse.
Eine gefühlte Ewigkeit stehe ich da. Aber es waren nur wenige Minuten. Ich muss weiter. Abends google ich „Stolpersteine Hagen“ und finde die drei Steine. Jacob Miner hatte eine Textilgroßhandlung. 1938 wurde er und seine Familie verschleppt und in Polen an einem unbekannten Ort ermordet.
Ich schaue mir noch weitere Stolpersteine an. Es sind so viele. Ich finde auch Steine, die für Widerstandskämpfer verlegt wurden. Macht das mein Herz leichter? Ich weiß, dass es damals auch mutige Menschen gegeben hat, die sich nicht dem System gebeugt haben und ihr Leben riskiert haben, um Juden zu retten. Aber es waren nicht genug. Die Dunkelheit hat gesiegt.
Rund 15.000 Stolpersteine gibt es in Nordrhein-Westfalen. Wie viele Menschen laufen jeden Tag über diese Steine oder an ihnen vorbei? Gedankenlos. Wie ich heute auch.

Wer mag sich überhaupt noch daran erinnern, was in unserem Land mit Juden passiert ist?
Es gibt heute nur noch sehr wenige Überlebende des Holocaust. Einer dieser Überlebenden ist Jehuda Bacon. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel »Solange wir leben, müssen wir uns ent­scheiden«. Es erzählt von Begegnungen mit Menschen, die sich dem Hass widersetzten.
Eine Entscheidung treffen. Das ist heute so wichtig wie schon lange nicht mehr. Zu sagen „wir haben von nichts gewusst“ erscheint mir heute eine schwache Ausrede. Doch wie hätte ich damals gehandelt? Hätte ich mich für mutigen Widerstand entschieden? Ich sorge mich um das, was in unserem Land passiert. In der ganzen Welt.

„Wer weiß, Gutes zu tun, und tut’s nicht, dem ist’s Sünde“ (Jakobus 4,17) lautet der Spruch für den heutigen Tag, den 9. November.
Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Es ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christen, uns gegen Unrecht aufzulehnen. Mutig für Recht und Gerechtigkeit einzustehen. Für unsere jüdischen Mitmenschen ebenso wie für Menschen, die wegen ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe oder ihrer Art zu Lieben verfolgt werden.
Solange wir leben, müssen wir uns ent­scheiden.

Susanne Eitzert

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